Man hört es so oft und möchte es doch kaum glauben: Ärzte vergessen versehentlich Schwämme im Bauch, schädigen Nerven, operieren am falschen Körperteil… In deutschen Kliniken kommt es jährlich zu 190.000 Behandlungsfehlern, rund 19.000 davon enden tödlich, so der neue Krankenhausreport der AOK.
Mangelnde Koordination der Abläufe, fehlende Hygiene, verkehrte Medikamente – die Fehlerquellen der Ärzte sind zahlreich, die Konsequenzen oft weitreichend. „Ein Behandlungsfehler liegt dann vor, wenn der Arzt nicht die aktuell geltenden Vorgaben von Wissenschaft und Technik anwendet“, erklärt Rechtsanwältin Sabrina Diehl aus Oberhausen. „Es kann durch Tun, aber genauso durch Unterlassen begangen werden. Auch führt häufig eine fehlerhafte Aufklärung zu Haftungsansprüchen.“
Ein- und ausgeliefert
Die Rechtsanwältin hat in den letzten Jahren über 1.000 geschädigte Patienten betreut. Die Zahl der beantragten
Gutachten wegen eines eventuellen Behandlungsfehlers von Ärzten nimmt ungefähr so rasant zu wie die Beiträge zur Haftpflichtversicherung, mit denen sich die Krankenhäuser gegen Schadenersatzzahlungen schützen.
Mehr als 12.200 Patienten haben sich im letzten Jahr an die Gutachterstellen der Ärzteschaft wegen eines Verdachts auf Behandlungsfehler gewandt – gut 1.100 mehr als im Vorjahr, wie die Bundesärztekammer mitteilt. Bei rund 30 Prozent war der Verdacht begründet. „Die Patienten legen nach und nach das Bild der Götter in Weiß ab, sind kritischer und anspruchsvoller und durch die Medien auch besser informiert“, weiß Frau Diehl.
Gerechtigkeit
Letztes Jahr verabschiedete der Bundesrat ein neues Patientenrechtegesetz, das die Position der Patienten gegenüber Ärzten und Krankenkassen stärken soll. Die zentralen Punkte darin: Patienten müssen umfassend über Diagnosen, Therapien und Kosten informiert werden, sie dürfen die Unterlagen jederzeit einsehen und bei groben Fehlern steht der Arzt in der Beweispflicht, dass sein Fehler nicht im Zusammenhang mit der eingetretenen gesundheitlichen Beeinträchtigung steht. Außerdem sollen Krankenkassen Versicherte bei der Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen unterstützen.
Doch noch immer gehört viel Kraft dazu, gegen Ärzte und Krankenhäuser vorzugehen. Wir trafen drei Frauen, die Opfer eines Ärztepfuschs wurden und nun um Gerechtigkeit kämpfen.
Was tun, wenn ich einen Behandlungsfehler vermute?
Man sollte sich schnellstmöglich von einem Fachanwalt beraten lassen. Außerdem sollte sich man sich an die Gutachterkommission der Ärztekammer wenden. Sie prüft anhand der Unterlagen, ob sich aus diesen ein Fehler ergibt. Sie kann letztendlich aber keine Bewertung des Schadens vornehmen, das kann nur der Fachanwalt.
Ist in jedem Fall ein Gerichtsverfahren nötig?
Nein, oft gelingt es mir, eine angemessene Entschädigung außergerichtlich auszuhandeln. Sollte doch eine Klage notwendig werden, dauert ein Verfahren (je nach Gericht) in der ersten Instanz etwa eineinhalb Jahre. Legt die unterlegene Partei Berufung ein, ein halbes Jahr länger.
Kann ich als Patient Behandlungsfehler vermeiden?
Gänzlich schützen kann man sich nicht, man kann aber das Risiko durch aktives Mitwirken verhindern. Sprechen Sie mit ihrem Arzt, fragen Sie nach! Denken Sie nicht, dass sie lästig sind. Und holen Sie sich eine zweite Meinung ein.
Susanne Meyer (46) bekam grundlos Kortison gespritzt
„Ich kann meine Schulter nicht mehr drehen“
Der Fall: „Ende 2011 ging ich mehrmals wegen Schulterschmerzen ins Krankenhaus. Ohne mich genauer zu untersuchen, äußerte man den Verdacht einer Schleimbeutelentzündung und spritzte Kortison. Erst im Januar wurde über eine OP gesprochen, danach ein MRT gemacht. Die Ärzte wollten den Schleimbeutel während des Eingriffs entfernen. Doch danach wurde alles noch viel schlimmer: Ich konnte den Arm aus eigener Kraft nicht mehr heben. Ein Alptraum! Die Ärzte behaupteten, das sei normal, es läge eine Schulterdacheinengung vor, sie mussten deshalb etwas vom Schlüsselbein entnehmen. Ich war verwirrt, denn dafür hatte ich keine Einwilligung gegeben. Aber ich ging davon aus, dass Ärzte wissen, was sie tun. Als sich auch Wochen später keine Besserung einstellte, sagte man mir, dass es zur Schultersteife gekommen sei. Merkwürdig, denn es wurde nach der OP keine Anschlussbehandlung veranlasst. Ich wechselte das Krankenhaus und erfuhr dort, dass eine massive Verklebung vorlag, mir ein viel zu großer Teil des Schlüsselbeins weggefräst wurde. Eine weitere OP war unumgänglich. Aber diesmal wurde direkt im Anschluss eine Reha organisiert. Endlich besserten sich die Schmerzen, aber die Rotation des Schultergelenkes ist bis heute eingeschränkt. Sie liegt bei gerade mal 10 Prozent. Das heißt, ich kann noch nicht mal allein meinen Hosenknopf schließen.
So sieht es rechtlich aus: Die Klinik muss für den Verdienstausfall aufkommen. Daneben steht der Mandantin auch Schmerzensgeld zu. Die anvisierte Schadenssumme liegt bei 92.000 Euro.
Carola K. (55) wurde nach einer veralteten Methode operiert
„Die Schmerzen waren kaum auszuhalten“
Der Fall: „Bei einem Ski-Unfall im März 2010 hatte ich mir das linke Kniegelenk verdreht. Es stellte sich heraus, dass glücklicherweise keine Bänder gerissen waren. Ich erzählte dem Arzt, dass mir bereits in der Vergangenheit öfter die Kniescheibe rausgesprungen war, mir von einer Operation allerdings abgeraten wurde. Der Arzt meinte dann, dass er ambulant operieren und ich nach sechs Wochen beschwerdefrei laufen könne. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, was auf mich zukommt, hätte ich das so genannte ,laterale Release' nie durchführen lassen! Denn danach litt ich unter höllischen Schmerzen, die immer schlimmer wurden. Das wird sich von selbst legen‘, meinte der Arzt. Aber auch die Physiotherapie brachte keinen Erfolg. Ich konnte nicht mal mehr Auto fahren, geschweige denn arbeiten. So ging ich zu einem Kniespezialisten und erfuhr dort, dass
die durchgeführte Methode völlig veraltet war und heute gar nicht mehr durchgeführt wird. Mir wurden einfach falsche Tatsachen unterbreitet. Weil die Schmerzen nicht nachließen, entschied ich mich zu einer weiteren OP, in der mir eine Teilprothese eingesetzt wurde. Danach wurde es besser, aber mein Leben ist für immer eingeschränkt: Bügeln, Staubwischen, Spaziergänge – all das ist kaum möglich, weil ich die Schmerzen unter Belastung nicht aushalte.“
So sieht es rechtlich aus: Carola steht eine Entschädigung zu, da die Operations-Methode veraltet war. Schmerzensgeld, Spätfolgen, Verdienstausfall – gefordert werden über 100.000 Euro
Wegen einer falschen Diagnose kam es bei Kathrin Scholz (19) zu einem Durchbruch des Blinddarms
„Mein Bauch schwillt immer wieder furchtbar an“
Der Fall: „2010 kam ich mit starken Bauchkrämpfen ins Krankenhaus. Mein Vater vermutete, dass der Blinddarm dahinter steckt. Aber der Arzt war anderer Meinung und ließ mich auf die gynäkologische Station bringen, wo nichts festgestellt werden konnte. Man pumpte mich die ganze Nacht mit den stärksten Schmerzmitteln voll. Erst am nächsten Tag wurde eine Bauchspiegelung gemacht. Danach stand fest: Der Blinddarm war durchgebrochen. Mein Stuhl hatte sich im Bauchraum entleert, was eine weitere schwere OP nach sich zog. Es kam zu Verwachsungen – unter den Folgen leider ich heute noch. Mein Bauch bläht sich immer wieder auf, wenn ich Sport treibe, sticht er, und im Rahmen einer späteren Schwangerschaft muss ich mit einem Risiko rechnen.“
So sieht es rechtlich aus: Kathrins Anwältin fordert ein Schmerzensgeld von 65.000 Euro. Sie hat gute Chancen, dieses Geld zu bekommen, denn der Arzt hat nachweislich eine falsche Diagnose gestellt.